Aus einer spontanen Laune heraus habe ich mir The Power (dt. Die Gabe) von Naomi Alderman gekauft. Ich wusste in etwa, worum es geht, denn in den sozialen Medien hatte ich das Buch schon oft gesehen. Es klang interessant, doch große Erwartungen an die Geschichte hatte ich nicht. Umso mehr konnte mich das Buch schließlich überraschen.

Inhalt

„Es sind scheinbar gewöhnliche Alltagsszenen: ein nigerianisches Mädchen am Pool. Die Tochter einer Londoner Gangsterfamilie. Eine US-amerikanische Politikerin. Doch sie alle verbindet ein Geheimnis: Von heute auf morgen haben Frauen weltweit die Gabe – sie können mit ihren Händen starke elektrische Stromstöße aussenden. Ein Ereignis, das die Machtverhältnisse und das Zusammenleben aller Menschen unaufhaltsam, unwiederbringlich und auf schmerzvolle Weise verändern wird.“ (© Heyne)

Ein interessantes Gedankenspiel

Wie ändert sich die Welt und das Zusammenleben der Menschen, wenn Frauen auf einmal die Macht haben – die Macht, ihren Willen durchzusetzen und die Macht, andere zu unterdrücken? Dieser Frage geht die Autorin Naomi Alderman nach und beschreibt die Entwicklungen in der Welt aus unterschiedlichen Perspektiven.

Überall auf der Welt besitzen Mädchen plötzlich die Gabe. Viele halten es zunächst geheim, so dass das Phänomen nur langsam an die Öffentlichkeit dringt. Soziale Medien spielen hierbei die entscheidende Rolle, denn dort werden nach und nach immer mehr Videos von seltsamen Vorfällen gepostet. So wird die Öffentlichkeit auf die Gabe aufmerksam.

Nehmen die Ereignisse zu Beginn nur langsam ihren Lauf, überschlagen sie sich schon bald. In den Medien wird über die Gabe und ihre Auswirkungen berichtet. Die Politik beschäftigt sich mit Fragen zur Sicherheit, die Wissenschaft mit Fragen zu Ursprung und Funktionsweise. Religionen versuchen die Gabe in ihre Glaubensgrundsätze zu integrieren – je nachdem wird sie als Erlösung oder Werk des Bösen betrachtet. Und schließlich versucht auch das organisierte Verbrechen, die Vorteile der Gabe für seine Zwecke zu nutzen.

Die Autorin zeigt so, wie sich die neue Situation auf sämtliche Aspekte des menschlichen Zusammenlebens auswirkt. Diese Herangehensweise an ein so komplexes und interessantes Gedankenspiel finde ich wirklich gelungen.

Die Gabe und ihre Auswirkungen

Das Buch erzählt die Geschichten von Margot, Allie, Tunde und Roxy, deren Erfahrungen und Erlebnisse abwechselnd geschildert werden. Durch diese vier Perspektiven deckt die Autorin den politischen, den religiösen, den medialen und den kriminellen Blickwinkel auf die Ereignisse ab. Die Handlung erstreckt sich so über einen Zeitraum von zehn Jahren. In diesem wird die Entwicklung hin zu einer Welt, in der sich Geschlechterklischees auflösen und Frauen nicht mehr als die Schwächeren wahrgenommen werden, anschaulich beschrieben.

Gender is a shell game. What is a man? Whatever a woman isn’t. What is a woman? Whatever a man is not. Tap on it and it’s hollow. Look under the shells: it’s not there. (The Power, Naomi Alderman)

 

Es ist spannend zu lesen, wie sich das Leben der Menschen ändert. Männer finden sich plötzlich in Situationen wieder, die sie nicht kennen, die für viele Frauen aber alltäglich sind. Besonders interessant sind die Alltagssituationen, in denen eine Verschiebung der Macht und somit eine Veränderung im Verhalten der beteiligten Personen stattfindet – etwa auf der Arbeit. Solche Szenen baut Alderman immer wieder ein und gerade diese finde ich besonders ausdrucksstark.

One of them says, ‚Why did they do it?‘ And the other answers, ‚Because they could.‘ That is the only answer there ever is. (The Power, Naomi Alderman)

 

Das Buch gibt viele Denkanstöße in Bezug auf unsere heutige Gesellschaft. Es wird deutlich, wie wichtig es ist, dass alle die gleichen Möglichkeiten und Chancen haben und welche Folgen es hat, wenn eine Gruppe ihre Macht missbraucht.

Komplex und ungeschönt

Durch die vier Perspektiven und den langen Zeitraum zeichnet die Autorin ein komplexes Bild. Viele Themen werden angesprochen, nicht unbedingt alles wird detailliert ausgeführt. Das ist jedoch nicht schlimm, denn es bietet Raum für Interpretationen und eigene Gedanken.

The truth has always been a more complex commodity than the market can easily package and sell. (The Power, Naomi Alderman)

 

Besonders zum Ende hin wird die Geschichte stellenweise brutal. Alderman zeigt ungeschönt die Auswirkungen der ungleichen Machtverteilung. Obwohl dies auf den ersten Blick extrem wirkt, ist es bei genauerem Hinsehen nicht wirklich abwegig. Auch in unserer Gegenwart finden sich Parallelen zu den Ereignissen im Buch – so schrecklich diese auch sind.

Auch die vier Protagonist*innen verhalten sich oft falsch und waren mir daher nur mäßig sympathisch. Allerdings werden sie vielschichtig dargestellt und auch wenn man ihre Entscheidungen nicht gut heißt, so sind die meisten Handlungen doch nachvollziehbar.

Schließlich gibt es am Ende der Kapitel jeweils Abbildungen oder Texte zu „archäologischen Funden“. Das Buch ist nämlich ein historischer Roman. Der fiktive Autor beschreibt darin die Welt, wie sie „vorher“ war und wie sie sich durch die Gabe verändert hat. Am Anfang und am Ende befindet sich daher auch ein Briefwechsel zwischen dem fiktiven Autor und der Autorin Naomi Alderman, in dem sie sich über den historischen Roman austauschen. Der Sinn dahinter wird erst am Ende ersichtlich und rundet die ganze Erzählung noch richtig ab.

Fazit

Die Gabe von Naomi Alderman zeichnet eine Zukunftsvision, in der sich die Machtverhältnisse grundlegend ändern. Chaotisch und brutal, aber auch hoffnungsvoll werden die Ereignisse aus vier Perspektiven geschildert. Die Handlung ist spannend und lässt sich in vielen Aspekten auf unsere Gegenwart beziehen. So regt das Buch in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an. Daher ist es wirklich für jede*n eine lesenswerte Lektüre.

The world is the way it is now because of five thousand years of ingrained structures of power based on darker times when things were much more violent… But we don’t have to act that way now. We can think and imagine ourselves differently once we understand what we ‚ve based our ideas on. (The Power, Naomi Alderman)

 

Weitere Meinungen

Ink of Books
Der Leseratz
Tasmetu
I am Jane

 

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, aber in der Infobox findet ihr die Angaben zur deutschen Ausgabe.

Die Gabe von Naomi Alderman

Titel: Die Gabe

Autorin: Naomi Alderman
Verlag: Heyne
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Science Fiction

Seiten: 480
Format: Taschenbuch
Übersetzung: Sabine Thiele
Originaltitel: The Power

 

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