Wie im Monatsrückblick schon angekündigt, kommt hier meine Rezension zum Roman Fliegende Hunde von Wlada Kolosowa: Ein Buch über Freundschaft, die Suche nach Liebe und das Erwachsenwerden.

CN: Essstörungen, Magersucht

Klappentext

„Oksana und Lena wachsen in einem tristen Vorort von St. Petersburg auf. Sie teilen alles:  Träume, Sorgen, erste Berührungen – Nächte, die es nicht geben darf. Um ihnen zu entkommen, zieht Lena zum Modeln nach China, wo ihr Körper Fotografen, Agenten und schmierigen Kunden gehört. Oksana taucht immer tiefer in eine Online-Community ab, in der Magersüchtige die Belagerung von Leningrad nachahmen und Rezepte für Ledergürtelsuppe und Erdkaffee austauschen. Als Lena in den Ferien nach Hause kommt, müssen beide Entscheidungen treffen. Ein Roman über die Freundschaft und zarte Liebe zweier junger Frauen, die auf ihren unterschiedlichen Wegen ihr Glück und sich selbst suchen – und dabei zu Konkurrentinnen werden.“ (© Ullstein Buchverlage)

 

Zwei Leben – zwei Wege

Die Freundschaft zwischen Oksana und Lena zerbricht, als Lena zum Modeln nach China geht und Oksana alleine in dem tristen Vorort von St. Petersburg zurückbleibt. Und genau hier steigen wir in die Geschichte ein. Wir begleiten die beiden ehemals besten Freundinnen ein Stück auf ihrem Weg.

Oksana vermisst ihre beste Freundin ganz schrecklich. Sie fühlt sich einsam und ist mit sich selbst unzufrieden. Dass Lena aufgrund ihres Aussehens eine scheinbar großartige Chance bekommen hat, findet sie ungerecht. Oksana ist davon überzeugt, dass auch ihr Leben besser wäre, wenn sie dünner wäre. Und so landet sie sehr schnell in einem Forum, in dem sich Magersüchtige austauschen und gegenseitig motivieren. Die Art und Weise, wie sie ihr Ziel – möglichst wenig zu wiegen – erreichen wollen, ist dabei besonders morbide. Sie essen nur das, was die Menschen während der Leningrader Blockade* gegessen haben.

Wie die Autorin hier zwei ernste Themen – nämlich ein schweres Kriegsverbrechen und Essstörungen in Form von Magersucht – miteinander kombiniert, wirkt zunächst absurd, funktioniert jedoch auf mehreren Ebenen sehr gut. Dass sich eine Online-Community dieses geschichtliche Ereignis als Vorbild nimmt, um ebenso „abzunehmen“ wie die Menschen, die letztlich aufgrund von Unterernährung gestorben sind, erschien mir zunächst weit hergeholt. Bedenkt man jedoch, dass Magersucht eine Krankheit ist, die in letzter Konsequenz ebenfalls zum Tod durch Unterernährung führt, passt es doch irgendwie zusammen.

Oksana findet die Idee jedenfalls interessant und versucht sich mit Hilfe der Online-Community an die vorgeschlagene Diät zu halten. Während sie die Diät allerdings nicht sonderlich ernst nimmt, beschäftigt sie die Leningrader Blockade doch sehr. Und so beginnt sie mit ihrer Recherche.

Lena kommt währenddessen in China an. Dort zieht sie in eine WG mit anderen Models und versucht mit mäßigem Erfolg, Jobs zu ergattern. Dabei stellt sie schnell fest, dass das Leben als Model weniger aufregend und glamourös ist, als sie es sich vorgestellt hatte. Trotzdem strengt sie sich an und will um jeden Preis erfolgreich sein und nicht als Versagerin nach Hause zurückkehren. Im Gegensatz zu Oksana verdrängt sie jeden Gedanken an ihre beste Freundin. Sie unterdrückt ihre Gefühle zugunsten ihrer recht fragwürdigen Karriere. Obwohl ihr schnell klar wird, auf was sie sich mit diesem Job eingelassen hat, ist sie nicht bereit, ihren Traum vom Modeln aufzugeben.

* Als Leningrader Blockade wird die Belagerung Leningrads (heute St. Petersburg) bezeichnet. Vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 starben etwa 1,1 Millionen Zivilisten. Die meisten von ihnen verhungerten.

Viele Themen – aber nicht überladen

Mir hat die Geschichte der beiden Freundinnen gut gefallen, denn obwohl sie sich nur am Ende wieder begegnen, erfährt man viel über ihre Freundschaft und wie sie sich gegenseitig sehen. So entsteht aus den zwei unterschiedlichen Perspektiven ein stimmiges Bild. Lena und Oksana sind aber nicht nur auf die jeweils andere fixiert, sondern ebenso auf den eigenen Körper – mit dem sie sehr unterschiedlich umgehen.

Wie die Autorin die vielen Aspekte miteinander verbindet, funktioniert hervorragend. Trotz der ernsten Themen lässt sich die Geschichte leicht lesen, denn der Ton ist eher locker, hin und wieder auch sarkastisch. Dass abwechselnd aus der Perspektive der beiden Freundinnen erzählt wird, schafft eine gewisse Dynamik und lässt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Lebenswege deutlich hervortreten. Auch wie unterschiedlich die beiden mit den Dingen umgehen, mit denen sie konfrontiert werden, wirkt authentisch und macht die Geschichte rund.

So bietet der Roman viele Anregungen zum Nachdenken und vermittelt außerdem auch geschichtliches Wissen – das gibt bei mir ja sowieso immer Pluspunkte. Eine Sache, die ich kritisieren könnte: Oksanas Kapitel haben mir deutlich besser gefallen als Lenas, denn Oksana ist irgendwie viel präsenter und ihre Geschichte war – zumindest für mich – die interessantere. Lena bleibt dagegen ein wenig blasser, wobei dies andererseits wiederum zu ihrem Charakter passt. Sie gibt gegenüber anderen nicht viel von sich Preis und unterdrückt ihre Gefühle und das merkt man auch während des Lesens. Ein wirklicher Kritikpunkt ist dies also dann doch nicht, da es einfach zur Geschichte passt.

Fliegende Hunde

Die Autorin Wlada Kolosowa liefert mit Fliegende Hunde einen interessanten, anregenden und vielschichtigen Roman über Freundschaft und das Erwachsenwerden. Doch auch einige ernste Themen finden Platz in dieser Geschichte, mit denen ich zunächst so nicht gerechnet hätte. Die Themen werden aber so gut miteinander verknüpft, dass sie eine runde und authentische Geschichte ergeben. Von Titel und Cover sollte man sich hier nicht täuschen lassen. Die Geschichte ist nämlich trotz des lockeren Schreibstils nicht so leicht, wie es vielleicht den Eindruck erweckt.

Vielen Dank an Vorablesen und Ullstein Buchverlage für das Rezensionsexemplar!

Titl: Fliegende Hunde

Autorin: Wlada Kolosowa
Verlag: Ullstein Buchverlage
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Belletristik

Seiten: 224 Seiten
Format: Hardcover
Übersetzung: –
Originaltitel: –