Wow, was für ein Buch! Dass es sich bei dem Debütroman der belgischen Schriftstellerin Lize Spit nicht um leichte Kost handelt, war mir vor dem Lesen klar. Trotzdem hat mich Und es schmilzt eiskalt erwischt und bedrückt und aufgewühlt zurückgelassen.
Inhalt
„Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit. Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum.“ (© S. Fischer)
Kalt und bedrückend
Eva ist seit dreizehn Jahren nicht in ihrem Heimatdorf gewesen. Nun will sie auf Einladung einer ihrer ältesten Freunde dorthin zurück. Schon auf den ersten Seiten ahnt man, dass es Gründe für ihre lange Abwesenheit gegeben haben muss, doch lange Zeit bleibt der Leser im Dunkeln.
Ich-Erzählerin Eva berichtet, wie sie sich mit einem Eisblock im Kofferraum auf den Weg zur Party macht. Dies ist die Rahmenhandlung in der Gegenwart, doch wirklich interessant sind die Erzählungen aus ihrer Kindheit und Jugend. Während sie unterwegs ist, erinnert sie sich zurück und lässt den Leser auf eindringliche Weise an allem teilhaben, was ihr damals widerfahren ist. Dabei ist die Erzählung nicht immer chronologisch, so dass man aufpassen und immer wieder einordnen muss, was zuvor geschehen ist und wo die fragmentierten Erinnerungen jeweils anknüpfen.
Vor allem zu Beginn führt diese Erzählweise dazu, dass man nicht weiß, worauf die Geschichte hinausläuft und wie man das Erzählte einordnen soll. Einen Hinweis darauf, dass etwas Schlimmes bevorsteht, liefert jedoch der Schreibstil. Nüchtern und kalt, ja fast gefühllos, wird die Geschichte erzählt und schafft damit eine düstere Atmosphäre. Während des gesamten Buchs – und auch noch nachdem ich es beendet hatte – ist diese bedrückende Stimmung nicht von mir gewichen.
„Alles schön und gut“, beschließt Pim, „aber das ist ja wohl eher das Schlimmste, was deine Mutter erlebt hat. Erzähl was von dir selbst.“
Ich denke nach, doch mir fällt nur anderer Leute Kummer ein. Leid, dessen Zeugin ich war, das ich mir ansah, bis es auch mein Leid wurde. Durch Teilen nimmt die Intensität ab, wird es für beide erträglicher. (Und es schmilzt, S. 88)
Schwer zu ertragen
Inhaltlich will ich gar nicht so viel verraten. Erwähnen muss ich aber, dass zum einen die prekären Verhältnisse in Evas Familie eine Rolle spielen sowie ihre Freundschaft mit Pim und Laurens, die alles andere als gesund ist. Das Buch enthält einige schwierige und schwer auszuhaltende Themen sowie explizite Gewaltdarstellungen, so dass ich eine Warnung bei diesem Buch tatsächlich angebracht fände, denn nicht jeder kann oder möchte sich auf eine solche Geschichte einlassen.
Eva ist eine unnahbare Protagonistin, obwohl aus ihrer Perspektive erzählt wird. Diese Distanz, die dem Schreibstil zu verdanken ist, hat mir jedoch das Lesen erleichtert. Trotzdem hatte ich Mitgefühl – meist eher Mitleid – mit ihr und nicht wenige Male hätte ich sie am liebsten geschüttelt, weil sie so vieles einfach mitmacht und über sich ergehen lässt. Lediglich im Umgang mit ihrer kleinen Schwester beziehungsweise dann, wenn sie rückblickend von ihr erzählt, werden ihre Gefühle etwas deutlicher. Das Verhältnis der Schwestern ist nämlich von Liebe, Mitgefühl und Fürsorge geprägt und gehört damit – trotz aller Schwierigkeiten – zu den weniger düsteren Aspekten in Evas Kindheit und Jugend.
Menschen, die egal wohin wollen, wollen nicht unbedingt irgendwohin, sie wollen nur nicht dableiben. (Und es schmilzt, S. 339)
Und es schmilzt
Sprachlich hat mich das Debüt von Lize Spit begeistert und auch inhaltlich gibt der Roman wie versprochen viel. Er verlangt dem Leser jedoch einiges ab. Wenn man das aushalten kann, wird man mit einer Geschichte belohnt, die bedrückt, aufwühlt, schockiert, aber auch nachdenklich macht, weil sie den Leser aus seiner Komfortzone holt. Aus den oben genannten Gründen kann ich das Buch zwar nicht uneingeschränkt empfehlen, doch für die, die ungemütliche Literatur suchen, ist Und es schmilzt genau das Richtige.
Vielen Dank an Vorablesen und S. Fischer für das Rezensionsexemplar!
2 Comments
Bisher haben alle Rezensionen zu diesem Buch vor einem intensiven Leseerliebnis fast schon gewarnt und einerseits zum Glück, andererseits zu meinem Frust, nicht viel über den Inhalt verraten. Deine Rezension reiht sich da nahtlos ein und ich bin wieder hin und her gerissen, ob ich das Buch lesen soll. Meine Neugier hast Du auf jeden Fall aufrecht erhalten und es bleibt nach wie vor auf meiner Leseliste.
LG Gabi
Ja, das ist schon kein leichtes Buch. Ich habe mich auch mit der Rezension ein wenig schwer getan. Einerseits will man wirklich nichts verraten, weil es das Leseerlebnis verdirbt, andererseits muss man einfach sagen, dass es nicht für jeden geeignet ist. Das muss jeder für sich entscheiden. Abgesehen von diesen expliziten Stellen sollte man aber auch diesen nüchternen Erzählstil mögen und sich nicht daran stören, wie langsam sich die Geschichte entwickelt. Für mich hat das alles wunderbar gepasst und eine bedrückende und düstere Atmosphäre geschaffen, andere fanden genau das langweilig. Das ist einfach Geschmackssache. Falls du es lesen solltest, würde mich deine Meinung dazu natürlich auch interessieren.
Liebe Grüße
Anka